Ich gehöre zu den Leuten, denen es in die Wiege gelegt wurde, Computer zu programmieren, und deshalb haben sich meine Überlegungen zum Thema Unternehmensgründung und Unternehmensführung auf Umwegen entwickelt. Ich habe stets auf der Produktentwicklungsseite meiner Branche gearbeitet; meine Partner oder Vorgesetzten waren Manager oder Marketingexperten und meine Kollegen im technischen oder operativen Bereich tätig. Während meiner gesamten beruflichen Laufbahn hatte ich im Schweiße meines Angesichts an Produkten gearbeitet, die am Markt scheiterten.
Aufgrund meiner Vorgeschichte führte ich diese Fehlschläge zunächst auf technische Probleme zurück, die technische Lösungen verlangten: eine Verbesserung der Architektur, des Konstruktionsprozesses, der Disziplin, der Fokussierung oder der Produktvision. Doch diese Optimierungsbemühungen zogen lediglich weitere Fehlschläge nach sich. Also las ich alles, was mir in die Hände fiel, und hatte zudem das Glück, einige der fähigsten Köpfe von Silicon Valley als Mentoren zu haben. Zu dem Zeitpunkt, als ich Mitgründer der IMVU wurde, war ich geradezu versessen auf neue Ideen, wie man ein Unternehmen aufbaut.
Ein Glück war auch, dass meine Mitstreiter bereit waren, sich auf Experimente einzulas- sen. Sie hatten genau wie ich die Nase voll von den althergebrachten Erfolgsrezepten«. Ein weiterer Segen war, dass wir Steve Blank als Investor und Berater ins Boot holen konnten. 2004 hatte er gerade begonnen, die Werbetrommel für eine neue innovative Idee zu rühren: Die Geschäfts- und Marketingfunktionen eines Startups waren nach seinem Dafürhalten genauso wichtig wie Produktdesign und Produktentwicklung; deshalb verdienten sie eine gleichermaßen rigorose, systematische Vorgehensweise als Orientierungshilfe. Er bezeich- nete diese Vorgehensweise als Kundenentwicklung, eine Disziplin, die mir Erkenntnisse und Wegweiser für meine tägliche Arbeit als Entrepreneur bot.
In der Zwischenzeit baute ich das Produktentwicklungsteam von IMVU auf, wobei ich ei- nige der eingangs erwähnten unorthodoxen Methoden anwendete. Gemessen an den klassischen Produktentwicklungstheorien, die man mir im Laufe meiner beruflichen Karriere eingebläut hatte, machten diese Methoden wenig Sinn, doch ich konnte aus erster Hand miterleben, dass sie funktionierten. Ich bemühte mich, diese Praktiken neuen Mitarbeitern, Investoren und anderen Firmengründern zu erklären. Es gab jedoch keine gemeinsame Sprache, um sie zu beschreiben, und keine konkreten Gesetzmäßigkeiten, um sie zu begreifen.
Ich begann, außerhalb der Entrepreneurszene nach Denkansätzen zu suchen, um mir einen Reim auf meine Erfahrungen zu machen. Ich nahm andere Branchen ins Visier, vor allem den Herstellungsbereich, aus dem die meisten modernen Managementtheorien abgeleitet wurden. Ich beschäftigte mich mit Lean Manufacturing, einem Prozess, der im Toyota-Produktionssystem in Japan seinen Anfang nahm und eine völlig neue Einstellung zur Produktion physischer Güter beinhaltet. Durch die Übertragung verschiedener Lean-Manufacturing-Konzepte auf meine eigenen unternehmerischen Herausforderungen – mit einigen Modifikationen und Veränderungen – schuf ich einen groben Rahmen, um die Zusammenhänge zu verstehen.
Diese Gedankengänge entwickelten sich Schritt für Schritt zum Lean-Startup-Konzept: die Anwendung des Lean Thinking auf den Innovationsprozess.
IMVU wurde ein Bombenerfolg. Die IMVU-Kunden haben mehr als 60 Millionen Avata- re geschaffen. Das Unternehmen ist gewinnträchtig, es wies 2011 einen Jahresertrag von mehr als 50 Millionen Dollar aus und in unserer derzeitigen Niederlassung in Mountain View, Kalifornien, beschäftigen wir über 100 Mitarbeiter. IMVUs virtueller Warenkatalog – der noch vor einigen Jahren als hochriskantes Projekt galt – enthält heute mehr als 6 Millio- nen Fanartikel; jeden Tag werden über 7 000 hinzugefügt, fast alle von Kunden entwickelt.
Durch den Erfolg von IMVU wurde ich immer häufiger von anderen Startups und Risiko- kapitalgebern um Rat gebeten. Wenn ich meine Erfahrungen bei IMVU schilderte, erntete ich oft verständnislose Blicke oder stieß auf unverhohlene Skepsis. Die häufigste Antwort war: »Das funktioniert nie!« Meine Erfahrungen standen in einem so krassen Gegensatz zu den klassischen Konzepten, dass selbst Silicon Valley, ein Mekka der Innovation, sich damit schwertat.
Dann begann ich zu schreiben, zuerst in einem Blog namens Startup Lessons Learned, und Vorträge zu halten – bei Konferenzen, vor Unternehmen, Existenzgründern und Risiko- kapitalgebern – kurzum vor jedem, der hören wollte, was ich zu sagen hatte. Da ich gezwungen war, meine Erkenntnisse immer wieder zu verteidigen und zu erklären, und dank der Zusammenarbeit mit anderen Autoren, Denkern und Entrepreneuren, konnte ich die Lean-Startup-Theorie über die rudimentären Anfänge hinaus verfeinern und weiterentwi- ckeln. Ich hoffte, eine Methode zu finden, mit der sich die enorme Verschwendung beenden ließ, die ich ringsum sah: Startups mit Produkten, die keine Abnehmer fanden; neue Produkte, die schon nach kurzer Zeit zu Ladenhütern wurden; unerfüllte Träume zuhauf.
Schließlich weitete sich die Lean-Startup-Idee zu einer ganzen Bewegung aus. Entrepreneu- re schlossen sich in der realen Welt zusammen, um sich über die Lean-Startup-Konzepte auszutauschen. Inzwischen gibt es organisierte Gruppen und Communitys, die Lean-Start-up-Prinzipien weltweit in mehr als 100 Großstädten umsetzen.1 Meine Geschäftsreisen ha- ben mich kreuz und quer durch viele Länder und Kontinente geführt. Überall sah ich die Zeichen einer unternehmerischen Renaissance. Die Lean-Startup-Bewegung ermöglicht einer ganz neuen Generation von Entrepreneuren den Zugriff auf neue Konzepte und Stra- tegien, die für den Aufbau erfolgreicher Unternehmen in unserer heutigen Zeit unabding- bar sind.
Obwohl ich mir meine Sporen in der Hightech-Softwarebranche verdient habe, ist die Bewegung weit über ihre Wurzeln hinausgewachsen. Tausende Entrepreneure setzen die Lean-Startup-Prinzipien in jeder nur erdenklichen Industrie um. Seither hatte ich Gelegen- heit, mit Entrepreneuren in Unternehmen unterschiedlicher Größe und Branchenzugehö- rigkeit zu arbeiten, Regierungsorganisationen eingeschlossen. Meine Mission hat mich in Gefilde geführt, die zu betreten ich mir nie erträumt hätte, von der internationalen Elite der Risikokapitalgeber bis hin zu den Vorstandsetagen der Fortune-500-Unternehmen und den heiligen Hallen des Pentagon. Besonders nervös war ich, als ich dem Leiter der Infor- mationstechnologie der U. S. Army die Lean-Startup-Prinzipien zu erklären versuchte, ei- nem Drei-Sterne-General (nur zu Ihrer Information, er war sehr aufgeschlossen gegenüber neuen Ideen, obwohl sie von einem Zivilisten stammten).
Ziemlich bald wurde mir klar, dass ich mich der Lean-Startup-Bewegung voll und ganz widmen musste, um sie voranzubringen. Mein langfristiges, ehrgeiziges Ziel: die Erfolgsrate neuer, innovativer Produkte weltweit zu verbessern. Das Ergebnis ist unter anderem folgendes Buch.
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Der Weg zum eigenen Unternehmen ist nie ohne Risiko. Und bis die Firma sich auf dem Markt etabliert hat, dauert es. Wer doch scheitert, verliert in der Regel viel Geld. Genau hier setzt das Konzept von Eric Ries an. Lean Startup heißt seine Methode. Sie ist schnell, ressourcenfreundlich und radikal erfolgsorientiert. Anhand von durchgespielten Szenarien kann man von vornherein die Erfolgsaussichten von Ideen, Produkten und Märkten bestimmen. Und auch während der Gründungphase wird der Stand der Dinge ständig überprüft. Machen, messen, lernen – so funktioniert der permanente Evaluationsprozess. Das spart enorm Zeit, Geld und Ressourcen und bietet die Möglichkeit, spontan den Kurs zu korrigieren. Das Lean-Startup-Tool hat sich schon zigtausenfach in der Praxis bewährt und setzt sich auch in Deutschland immer stärker durch.